In der Schweiz sind detaillierte Statistiken zur Diagnose neurodivergenter Bedingungen – wie Autismus-Spektrum-Störung (ASD), Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Dyslexie und anderen – schwer zugänglich. Dieses Defizit spiegelt ein globales Muster wider, bei dem umfassende epidemiologische Daten zur Neurodiversität nur begrenzt verfügbar sind.
Die Diagnose neurodivergenter Bedingungen, wie beispielsweise Autismus-Spektrum-Störungen (ASD), stellt ambulante Gesundheitseinrichtungen vor vielfältige Herausforderungen. Klassifikationssysteme wie DSM-5 und ICD-11 bieten zwar Kriterien, jedoch erschweren überlappende Symptome, etwa zwischen ASD und ADHS, eine präzise Diagnostik. So können Individuen gleichzeitig Merkmale von ASD und ADHS aufweisen, was zu Unter- oder Fehldiagnosen führt. Frauen und Erwachsene werden häufig fehldiagnostiziert, da die bestehenden Kriterien überwiegend auf männliche und kindliche Merkmalsausprägungen ausgerichtet sind. Zusätzlich erschweren gesellschaftliche und kulturelle Faktoren – wie Stigmatisierung, geringe Sensibilisierung für Neurodiversität und begrenzte Ressourcen – den Zugang zu Diagnosedienstleistungen.
Diese Arbeit stellt einen Proof of Concept für eine mobile Pre-Screening-App vor, die diagnostische Instrumente wie das Autismus Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und den Autism Spectrum Quotient (AQ) digital zugänglich macht. Ziel ist es, ambulante Diagnostikprozesse zu erleichtern, den Zugang zu Screenings zu verbessern und zeitnahe Interventionen zu ermöglichen.
Methode
Die Entwicklung des Prototyps erfolgte nutzerzentriert (User-Center Design, UCD) und umfasste sowohl technische als auch gestalterische Schritte. Basierend auf einer umfassenden Literaturrecherche und Stakeholder-Interviews (Fachpersonen, Betroffene, Angehörige) wurden zunächst Anforderungen an das System definiert. Darauf aufbauend wurde ein plattformübergreifender Prototyp mit React Native entwickelt. Zur Standardisierung und sicheren Verwaltung von Gesundheitsdaten kamen Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR) zum Einsatz.
Besonderes Augenmerk lag auf der Zugänglichkeit für neurodiverse Individuen. Dabei wurden Funktionalität, Verständlichkeit und kognitive Entlastung evaluiert, um kontinuierliche Optimierungen vornehmen zu können.
Resultate
Die Ergebnisse der ersten Testphase zeigen, dass die entwickelte mobile Anwendung als praktikables Werkzeug für Pre-Screening in ambulanten Bereich eingesetzt werden kann. Die Teilnehmenden berichteten von einer verbesserten Zugänglichkeit zu ersten diagnostischen Einschätzungen, einer klaren und benutzerfreundlichen Struktur sowie einer spürbaren Reduktion der kognitiven Belastung im Vergleich zu herkömmlichen, manuellen Verfahren. Die Integration etablierter diagnostischer Instrumente mit nutzerzentriertem Design und barrierefreien Ansätzen schafft ein zugängliches und skalierbares Werkzeug, das sowohl Betroffene als auch Gesundheitsfachpersonen effektiv unterstützt.
Die vorgestellte mobile Pre-Screening-Anwendung zeigt, dass technische Innovationen in der medizinischen Informatik dazu beitragen können, bestehende Lücken in der Diagnostik neurodiverser Bedingungen zu schliessen. Durch die Verbindung etablierter diagnostischer Instrumente mit nutzerzentriertem Design und barrierearmen Konzepten entsteht ein zugängliches, skalierbares Werkzeug, das sowohl Betroffene als auch Gesundheitsfachpersonen unterstützt.
Dennoch sind weitere Schritte notwendig. Zudem ist eine breitere Evaluation mit grösseren Stichproben und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten angezeigt, um die Validität und Zuverlässigkeit des Verfahrens weiter zu stärken. Dieses Proof of Concept zeigt, dass mobile Anwendungen ein vielversprechendes Potenzial zur Weiterentwicklung der Diagnostik im Bereich Neurodiversität bieten.